Freiheit – Die Grundlage für echte Bhakti

"Offenbarte Wahrheit nimmt im Laufe der Zeit die Färbung desjenigen an, der sie empfängt, und wird durch das Weiterreichen über Zeitalter (oder Zeitepochen) hinweg in einen Irrtum verwandelt. Deswegen sind fortlaufend neue Offenbarungen notwendig, um die Wahrheit in ihrer ursprünglichen Reinheit zu bewahren. Wir werden daher ermahnt, bei unseren Studien der alten Autoren sehr sorgfältig zu verfahren, für wie weise sie auch immer erachtet werden. Hier haben wir die volle Freiheit, die falsche Vorstellung zurückzuweisen, die für unseren Seelenfrieden (peace of conscience = Gewissensfrieden) unannehmbar ist."

"Freiheit ist daher der Grundsatz, den wir als das wertvollste Geschenk Gottes ansehen müssen. Wir dürfen es uns nicht gestatten, von jenen geleitet zu werden, die vor uns gelebt und gedacht haben. Wir müssen selbständig denken und versuchen, weitere Wahrheiten zu erhalten, die immer noch unentdeckt sind. Im Bhagavatam wird uns geraten, den Geist der Shastras (Schriften) mitzunehmen und nicht die Worte."
Aus "The Bhagavat"; von Bhaktivinoda Thakur (1838-1914)


Gott selbst ist es, der uns diese Freiheit schenkt, wie wir aus der Bhagavad-Gita (18.63) wissen. Im Vishnuismus versteht man Gott als den Urersten Guru (Lehrer). (In der Gaudiya-Sampradaya ist es ganz spezifisch Sri Nityananda Prabhu, der als Adi-Guru bezeichnet wird, als der ursprüngliche Guru.) Wenn uns der ursprüngliche Lehrer diese grundsätzliche Willens- und Handlungsfreiheit schenkt, warum sollte dann irgendjemand im Namen von Bhakti diese Freiheit beschränken wollen?

Freiheit und damit verbunden Selbstverantwortung ist ein wunderbares Geschenk. Daher kann niemand sagen: "Folge diesem oder jenem Guru und du wirst garantiert das höchste Reich erlangen. Einzige Bedingung, du darfst ihn niemals hinterfragen!"
Selbstverständlich gehört es auch zu unserer Freiheit, dieselbige an andere abzutreten. Doch sind wir dadurch von unserer eigenen Verantwortlichkeit befreit? Nein! Denn auch das Aufgeben der Freiheit ist ein Akt der Freiheit und befreit daher niemanden von der Selbstverantwortung und den Folgen der genutzten oder aufgegebenen Freiheit.

Wer sich entschlossen hat, der Unterweisung (Shiksha) eines Lehrers (Gurus) zu folgen, bleibt trotzdem für sein eigenes Tun persönlich verantwortlich und sollte daher immer mit Herz und Verstand das Gelernte bejahen können. Ansonsten haben wir, nach Bhaktivinoda Thakur, "die volle Freiheit, die falsche Vorstellung zurückzuweisen, die für unseren Seelenfrieden unannehmbar ist."

Jemand mag hier einwenden, dass dir das Wissen fehlt, um zu verstehen, was eine "falsche Vorstellung" ist. Der Einwand mag sogar zutreffend sein. Doch es ist Teil der Freiheit, sich irren zu dürfen. Und wer aufrichtig und von Herzen sich dem Höchsten nähern möchte, wird aus Irrtümern lernen, sie korrigieren und weiter auf dem Pfad der Liebe zu Gott voranschreiten. Diese innere Freiheit eines Schülers ist das essenzielle Element für Fortschritt auf dem Pfad der Gottesliebe.
Selbstverständlich liegt es auch in dieser Freiheit, einem Lehrer (aus persönlicher Erfahrung) zu vertrauen. Zu vertrauen bedeutet aber nicht, einfach blind wie das sprichwörtliche Huhn zu folgen. Wir haben immer die Freiheit, jene Unterweisungen, die wir weder mit Herz noch Verstand verstehen oder die unseren Seelenfrieden stören, zurückzuweisen oder auf eine Art "Wartebank" zu schieben.

Vertrauen in den Guru bedeutet vor allem anderen, vertrauen in seine aufrichtige und ehrliche Absicht. Solches Vertrauen kann aber nur durch persönliche Erfahrungen entstehen. Heutzutage reisen Gurus rund um die Welt oder sie leben irgendwo in einem Tempel. So oder so ist es schwierig für einen Suchenden, die nötige Zeit zu finden, um solches Vertrauen zu entwickeln. Obwohl dieses Vertrauen zu Beginn fast unabdingbar ist, um — ähnlich einem Baby — auf einem völlig fremden "Gebiet" die ersten zaghaften Schritte zu machen, sind die meisten Gottsucher gezwungen, den Unterweisungen einen gewissen Kredit einzuräumen.
Die erste und zugleich wichtigste Unterweisung eines echten Gurus liegt in der Aufforderung, den heiligen Namen Gottes anzunehmen, wie es die Vedas empfehlen.

harer nama harer nama harer namaiva kevalam
kalau nasty eva nasty eva nasty eva gatir anyatha

"Im gegenwärtigen Zeitalter des Kali gibt es kein anderes Mittel, kein anderes Mittel, kein anderes Mittel zur Selbstverwirklichung als der heilige Name von Hari, der heilige Name von Hari, der heilige Name von Hari."

Das Brihan-Naradiya Purana (38.126) betont hier die besondere Bedeutung des heiligen Namen für das gegenwärtige Kali-Yuga mit einer dreifachen Wiederholung.
Der Adi-Guru, der Höchste in Gestalt Sri Nityanandas, präzisiert diese Unterweisung mit folgenden Worten:

bhaja gauranga kaha gauranga, laha gauranger nama
"Verehre Gauranga, sprich nur über Gauranga und singe den Namen von Gauranga!"

Der Grund liegt darin, dass Gauranga die Aparadhas gegen seinen Namen verzeiht, ganz im Gegensatz zu Krishna.
Srila Bhaktisiddhanta Saraswati schreibt in seiner Erläuterung zu Cc 1.8.31:

"Das Hare Krishna Maha-mantra berücksichtigt die Vergehen (Aparadha), wohingegen die Namen von Gauranga-Nityananda keine Vergehen berücksichtigen. Ein vergehensvoller Chanter wird niemals allein durch das Chanten des Hare Krishna Maha-mantra die Frucht des Chantens (ekstatische Liebe zu Krishna) erlangen. Deshalb sollte jemand, solange er Vergehen begeht, regelmässig die Namen von Gauranga-Nityananda chanten, denn sie sind grahanakari-nama (die wichtigsten anzunehmenden und zu chantenden Namen) für den sadhaka der anartha-yukta Stufe. Durch das wiederholte Chanten (karite karite) der Namen von Gauranga-Nityananda werden alle Vergehen zerstört, und so erlangt man sehr schnell die Frucht des Chantens, reine Liebe zu Krishna."

Und Bhaktisiddhanta erklärt weiter:

"Die Namen von Krishna und Gauranga – beide sind nicht verschieden vom Herrn selbst. Jemand der denkt, Krishna sei in irgendeiner Weise Gauranga untergeordnet oder begrenzt, befindet sich in grober Unwissenheit. Aber wenn wir ganz praktisch (prayojana) überlegen und den Vorteil für die bedingten Seelen beachten, ist das Chanten von Shri Gauranga-Nityanandas Namen für jedes Lebewesen viel nützlicher und hilfreicher. Die Barmherzigkeit von Krishnas Namen ist generell nur befreiten oder vollkommenen Seelen zugänglich, die ihm ergeben sind. Aber der Grossmut der Namen von Shri Gauranga-Nityananda ist ganz besonders für die Seelen, die Vergehen begehen, und die voller Anarthas und Wünschen nach materieller Sinnenbefriedigung sind. Das Chanten der Namen von Shri Gauranga und Shri Nityananda und Ihre Verehrung befreit die Seele sehr schnell von allen Vergehen und so erlangt sie ohne Verzögerung den Schutz der Lotosfüsse von Shri Gaura-Krishna (Sri Gauranga)."

Das Hören, Chanten und sich Erinnern an den heiligen Namen ist die empfohlene Form des Gottdienens im Kali-Yuga.
Sri Krishna, ganz besonders in Gestalt Sri Gaurangas und Sri Nityanandas, macht es uns damit sehr leicht. Denn der heilige Name ist von nichts anderem abhängig, als unserer Aufrichtigkeit in seiner Verehrung. Jede Frau, jeder Mann und jedes Kind ist daher frei und kann mittels des heiligen Namen in eine liebende Beziehung zu Gott treten.

Manchmal wird das Chanten des Gottesnamen als eine Bitte, ihm Dienen zu dürfen, interpretiert. Das ist grundsätzlich falsch und eine unübersehbare Herabsetzung des heiligen Namens, dem jede Seele unmittelbar durch Chanten und sich an ihn Erinnern dienen darf und kann. Mehr als Vertrauen (Sraddha), das man durch einen Vaishnava erlangt hat, ist nicht vonnöten.
In Wahrheit ist das Hören, Chanten und das sich an den heiligen Namen Erinnern die empfohlene und die beste Form des Gott-Dienens.

Der heilige Name ist mit der jeweiligen Gestalt des Herrn identisch. Es gibt keinen Grund, seine Stellung und Bedeutung zu verändern, es sei denn, jemand schreibt sich selbst (seinem Ego; Ahankara) eine Stellung zu, die im Grunde völlig lächerlich ist..

Freiheit bedeutet deshalb auch, eigene Erkenntnisse und Erfahrungen über die heiligen Namen anzunehmen, selbst wenn sie nicht von allen geteilt werden.

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