Tata-stha-Shakti

Tata-stha-Shakti (Taṭa-sthā-Śakti), die Kraft an der Grenze.
Zwischen den beiden gewaltigen Kräften Cit-Shakti und Maya-Shakti befindet sich die dritte grosse Kraft Gottes, die Tata-stha-Shakti oder auch Kshetrajna-Shakti (kṣetrajña-śakti) und Jiva-Shakti (jīva-śakti) genannt.

Aus dieser Kraft sind die zahllosen Atmans (Seelen) gebildet. Sie heissen auch Kshetrajna, Feldkenner. Sie alle sind Betrachter des Feldes (Kshetra), d.h. aller Vorgänge in ihren psychischen und physischen Hüllen.
Jeder der unendlich vielen Atmans, deren Gesamtheit die Tata-stha-Shakti ausmacht, ist seinem wirklichen Wesen nach ewiges Leben, ewig lebendiges, spirituelles Bewusstsein. Der Atman gehört seiner Natur nach eigentlich gar nicht zu dieser Welt von Raum und Zeit, sondern zur Welt des Unmessbaren, Unberechenbaren, also zum unendlichen Reich Gottes. Der Atman wird nicht geboren und stirbt nicht. Das wird auch in der Gita bestätigt:

  • Die Seele wird nie geboren und sie stirbt nie. Sie ist unermüdlich, ewig jung und dennoch uralt. Obschon der Körper Gegenstand von Geburt und Tod ist, kann die Seele nie zerstört werden. (Bhagavad-Gita 2.20)

Das Wesen des Atman ist transzendente ewige Existenz (sat), reine Erkenntnis, Wissen (cit), und Glückseligkeit, Freude (ananda). Diese «Eigenschaften» sind mit dem Atman ewig verbunden, genauso wie Licht und Wärme mit dem Feuer verbunden sind und sie sind frei von den Eigenschaften der Materie (nirguna). Natürlich besitzt der Atman diese nur in kleinem Masse, denn er ist auch nur ein winziger abgesonderter Teil des höchsten Herrn. Er besitzt echtes Ich-Bewusstsein, d. h. das Bewusstsein: „Ich bin Atman“.
Sobald er in eine Beziehung zu Gott tritt, erlebt und versteht der Atman, dass er seinem Wesen entsprechend zu Gott gehört, der Gestalt voller unbegrenzter Lieblichkeit.
Im Wesen des Atman liegt Willensfreiheit, Initiative und auch Spontanität. Er kann nie von etwas, was nicht zur unwandelbaren spirituellen Kategorie gehört, nie von den Sinnen, dem Verstand oder dem Intellekt, die aus Maya bestehen, begriffen werden. Der Atman erkennt sich selbst durch seine ihm eigene Erkenntnisfähigkeit (cit).

Die Atmans «beginnen»1 ihre Existenz im Brahmajyoti, der leuchtenden Ausstrahlung Gottes und seines Reiches. Dort, zwischen dem Gottesreich aus Cit-Shakti und den materiellen Universen (dem Reich Mayas), geniesst der Atma in vollständiger Passivität die Freude und das Glück, welches vom Gottesreich ausströmt. Passivität ist jedoch nicht die wahre Natur der Seele. Fortlaufend „erwachen“ Atmans und wollen dieses bis anhin statische Glück des Brahman durch Aktivität steigern. Je nachdem, ob das Dominieren-Wollen oder das Sich-Verschenken-Wollen im Atman vorherrscht, wird er ganz natürlich von einer der grossen Kräfte Gottes (Cit-Shakti oder Maya-Shakti) angezogen, damit sich sein innerster Wunsch erfüllen kann.
Es ist dieser freie Wille des Atman, kombiniert mit dem wunscherfüllenden Wesen Gottes, welcher die Seele in die Welt Gottes oder die Welt der Maya leitet. Wer eine dienend-liebende Haltung einnimmt, erreicht ohne Umwege das ewige Reich Gottes, wo er einen unvergänglichen göttlichen Körper erhält, der alle Möglichkeiten zum Gottdienen und insbesondere Gottlieben bietet. Wenn er sich selbst als Zentrum der Dinge erleben und geniessen möchte, das heisst, wenn er unbewusst Gott imitieren will, kommt er in den Bereich der Maya. Nur hier kann er die falsche Vorstellung ausleben, selbst der Meister zu sein. – So wird sein ewiges Selbst-Bewusstsein als Atman gelähmt, quasi eine Bedingung, um seinen Wunsch zu erfüllen.
So wird er zum Jiva-Atman oder Jiva,2 einem von Maya-Stoff umschlossenen Atman, der sich unter der Kraft des falschen Ego (Ahankara) mit den veränderlichen, zeitweiligen Hüllen identifiziert.

Die grosse Unterweisung Krishnas in der Bhagavad-Gita beginnt mit einer Darlegung des Wesens des Ewigen, dem jeder Atman angehört, des Bewusstseins, das der Jiva-Atman verloren hat und das er durch Yoga wieder erlangen kann.
Erreicht der Atman durch die vollständige Entsagung der materiellen Welt die Erkenntnis seiner selbst, geht er wieder zurück ins Brahman, in die leuchtende Ausstrahlung Gottes. Diese Form der Erlösung (Mukti) wird von den Schriften nicht als endgültige Befreiung anerkannt, denn der Atman kann, wie zuvor, wieder in die Welt der Maya eintreten.

Wer aber mit der Hilfe eines echten Vaishnava seine innere Herzenshaltung in eine Haltung der Liebe und Hingabe zu Gott (Bhakti) ändert, wird durch die Gnade Gottes3 ins ewige Gottesreich (Vaikuntha) gelangen. Krishna verspricht in der Gita (8.21, 15.6), dass jeder, der sein ewiges Reich erreicht, nie mehr in die sich fortlaufend veränderde Welt von Geburt und Tod zurückkehren muss.

Das alleinige Aufgeben aller eigensüchtigen oder weltlichen Tätigkeiten und Wünsche genügt also nicht, um in die Welt der ewigen Vielfalt, in das Reich Gottes, aufzusteigen. Es braucht die freiwillige, aktive und liebevolle Hinwendung zu Gott.

Ihrer Natur nach ist die Jiva-Shakti, d.h. die Gesamtheit der Atmans, der Cit-Shakti zugehörig, aber nicht in ihrer Fülle, sondern in geminderter Intensität und in zahllose Strahlen (Funken) vereinzelt. Jedes Partikelchen eines Strahles ist ein Atman. Wenn sie in die „Dunkelheit“ der Maya hinein gehen, verleihen sie, je nach der Dichte der Hüllen, allem Bewegten und Unbewegten im Weltall einen grösseren oder geringeren Grad von Leben und Bewusstsein.

Die Erkenntnis der Schriften kennt nichts gänzlich Lebloses im Universum; denn alles ist von den Atmans und in letzter Konsequenz vom Paramatma durchdrungen (belebt).
Von den höchsten Devas, wie Brahmā, bis hinunter zu Mikroben, Kristallen und Steinen, finden sich Wesen, die ihrer inneren Natur nach Atmans sind.
Sie haben sich entschieden, Zentrum sein zu wollen, um Freude zu finden. Das führte sie in die Domäne der Maya, die sie in Materie einkleidete, mit Sinnen (feinstofflich) und Sinnesorganen (grobstofflich) zum Geniessen der fein- und grobstofflichen Welten.
Einzig zur Erfüllung ihrer eigenen Wünsche werden die Atmans von der Maya, die Gottes Willen vollzieht, in Hüllen aus der Substanz der Maya (grob- und feinstoffliche) Materie gekleidet.

Aus dem Guna Tamah der Maya sind die Welten der Materie und die Körper der Lebewesen gebildet. Vorwiegend aus dem Guna Tamah (Unwissenheit) und verhältnismässig viel Rajas (das aktive Prinzip, die Leidenschaft) sind die Sinnesorgane und der aktiv ordnende und Schlussfolgerungen ziehende Geist (Manas) der Wesen gebildet. Aus dem Guna Tamas und verhältnismässig viel Sattva (Reinheit) ist die denkende und Vorstellungen bildende Intelligenz (Buddhi) und auch das Bewusstsein und Unterbewusstsein (Citta) gebildet. Aus den Gunas der Maya ist auch der falsche Ich-Sinn, das Ahankara gebildet, d.h. das Vermögen, diese verschiedenen Hüllen als eine Einheit zu erleben.

Die feinstoffliche psychische Hülle kann mit einem Hemd und der physische Körper mit einer schweren Jacke verglichen werden. Der Atman sagt unter dem Einfluss der Maya „Ich“ zu dem, was lediglich mit Jacke und Hemd zu vergleichen ist.

Der Atman, der von grober und feiner Materie Unberührte, der Ungeborene, Todlose, Ewige, dessen Wesen ein Tropfen „sac-cid-ananda“ (Sein-Erkenntnis-Freude) ist, glaubt, das Schicksal seiner vergänglichen Hüllen sei sein eigenes Schicksal und sagt: „Ich bin hungrig, ich bin satt, ich bin gesund, ich bin krank, ich bin Deutscher, ich bin Christ, ich bin Hindu, ich bin Frau, ich bin Mann“ usw., alles eine zeitweilige Täuschung, bewirkt durch Maya.
Diese falschen Identifikationen nimmt der Atman auf sich, nur um sein eigenes Begehren4) erfüllen zu können. So akzeptieren sie diese Welt der Materie, denn ohne Körper, Geist und Sinne (aus dem Stoff der Maya) vermöchten die Atmans ja gar nicht für sich selbst die Objekte der Materie zu geniessen und sie könnten keine Pläne für zukünftigen Genuss schmieden.5) Sie könnten nur sich selbst und im besten Falle ihren eigenen Urgrund (Gott) erkennen.

Im Bhagavatam wird berichtet:

  • „In seinem ganz von Bhakti durchglühten Geist, ganz (auf Bhagavan) ausgerichtet und rein, sah er (Vyasadeva, der Verfasser des Bhagavatam) den urewigen Gott (der Ganzheit und Fülle ist). Dann sah er die Maya, die nur mittelbar wie von fern in ihm gründet und völlig unter seiner Kontrolle stand. Durch den Einfluss der drei Gunas, erhält der reine Atman ein falsches Ich-Bewusstsein und betrachtet sich als ein Produkt der Materie; deshalb erleidet er die Reaktionen seiner Taten.“ (Bhagavatam 1.7.4-5)

Das Bhagavatam führt weiter aus:

  • „Wenn der Atman der Anziehungskraft der Maya erliegt, wird er von Furcht überwältigt. Weil er durch die Maya vom höchsten Gott (Krishna) getrennt wird, wandelt sich seine Lebensauffassung ins Gegenteil. Er beginnt, sich selbst als ein Produkt der Materie zu sehen. Um diesen Fehler rückgängig zu machen, verehrt ein Mensch, der wirklich weise ist, Krishna – als seinen Guru (Lehrer), als seine verehrungswürdige Gottheit und als die Überseele (Paramatma) – durch den Vorgang des reinen Dienens (Bhakti).“ (Bhagavatam 11.2.37)

Eigentlich ein Begriff, der zur Materie gehört, aber hilfreich ist, die Ursache der Verstrickung in die Materie zu verstehen. Siehe hierzu auch die Beschreibung unter Atman.

Das Wort Jiva wird hergeleitet von der Wurzel jiv und bedeutet Leben und Leben verleihen. Es ist der verkörperte Atman, der den grob- und feinstofflichen Hüllen ein scheinbares Leben verleiht.

Gottes Segen erhält man fast immer durch einen Vaishnava, der ähnlich einer Relaisstation, Gottes Gnade weiter gibt. Entweder durch direkte Shiksha (Unterweisung) oder auch in Form von Büchern.

Das Begehren, im Zentrum stehend zu geniessen.

Sie könnten keine auf die Materie gerichteten Wünsche hegen.

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